Erste Fahrradtouren - 1961
Erste eigene Radtour (ca. 24 km) (Abb. © ul 2015-01-10)
Wir schreiben das Jahr 1961. Seit einigen Wochen bin ich 12 Jahre alt und stolzer Besitzer einer neuen Torpedo-Dreigang-Nabe von Sachs, eingebaut in das Hinterrad meines wunderschönen roten Tourenrades der Heidemann-Werke-Einbeck (HWE). Das verlangt ja geradezu nach großen Touren.
Mein erstes Fahrrad - hier schon nachgerüstet mit Sachs Torpedo 3-Gang-Nabe
Zum 10. Geburtstag hatte ich dieses Fahrrad bekommen und da auch erst richtig Fahrradfahren gelernt. Seither war ich so oft wie möglich unterwegs und eifrig dabei meinen Horizont zu erweitern. Erst waren es nur kleinere Ausflüge. Beliebtes Ziel war immer wieder der Abrollberg am Bahnübergang 'Waldweg'. Dort konnten mein größerer Bruder und ich stundenlang zuschauen, wie Güterzüge neu zusammmengestellt wurden.
Celle - Oppershausen 24 km
Doch das reichte mir bald nicht mehr. Und so habe ich mich eines Tages allein auf den Weg gemacht, um meinen Freund Bernhard zu besuchen, Sohn des Pastors im zehn Kilometer entfernten Klosterdorf Wienhausen. Aber er ist nicht zuhause. Also fahre ich weiter, über die Aller in das nächste Dorf. Doch hier wird mir mit einem Mal ganz mulmig zumute. Ich befinde mich plötzlich in mir gänzlich unbekannten Gefilden. Also mache ich das mir einzig vernünftig erscheinende, ich kehre um. Innerlich fühle ich mich damals gänzlich von aller Welt verlassen, allein. Da, der kleine Laster mit den Handwerkern im Führerhaus, der könnte mich doch mitnehmen. Aber er braust einfach an mir vorbei. Keiner nimmt Notiz von mir, dem kleinen Jungen, der da so mutterseelenallein an der Landstraße entlang radelt. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Fleissig in die Pedale tretend fahre ich den Weg so schnell wie möglich zurück, nach Hause. Schließlich komme ich erleichtert dort an. Meine Mutter arbeitet wie so oft in ihrem geliebten Garten. Von meinem Ausflug und den dabei ausgestandenen Ängsten erzähle ich ihr nichts. So bin ich zu meiner ersten längeren Radtour gekommen, und im Grunde ein wenig stolz, dass ich das geschafft habe. Immerhin, fast 25 Kilometer sind es gewesen.
Ausflug von Celle nach Oppershausen und zurück (dargestellt auf aktuellem Kartenmaterial)
Doch das sollte nicht die letzte Fahrradtour gewesen sein. Bei uns zuhause wurden alle Wege mit dem Fahrrad erledigt. Das erste Auto gab es erst Ende der 60er Jahre, als mein Bruder seinen Führerschein gemacht hatte. Da lag der Gedanke nahe, neben den kleineren Ausflügen mit dem Rad mal eine größere Tour zu starten. Es muss 1961 gewesen sein, als meine Tante im Weserbergland uns zu einem Besuch einlädt. Ich bin sofort Feuer und Flamme. Mit meinem Fahrrad eine so weite Strecke zurücklegen? Welch ein Abenteuer!
Also machen wir uns an die Planung: Wenn möglich, sollen es nur Kreisstraßen sein, auf denen wir unser Ziel erreichen wollen, wobei mir, glaube ich, die Unterschiede in der Klassifizierung von Straßen noch gar nicht so klar waren. Hannover wollen wir rechts liegen lassen. Wir müssen auf jeden Fall eine Landkarte benutzt haben. Die ist allerdings nicht mehr vorhanden.
Celle - Halle 100 km
Die erste Stadt in südlicher Richtung von Celle aus gesehen ist Burgdorf. Die können wir noch weitgehend auf Schleichwegen und Nebenstraßen erreichen: an unserem Pilzwäldchen und an Bennebostel vorbei, durch den Wald nach Nienhagen, von da durch das Erdöl-Fördergebiet. Spannend: Überall Ölpumpen und das Erdölwerk der Wintershall AG mitten im Wald. Der Rest bis Burgdorf ist dann eher langweilig. Es geht durch die Niederung der Aue, später über große Ackerflächen für den Zuckerrübenanbau. Rein landwirtschaftlich genutzte Gebiete sind halt immer etwas eintönig, bieten dem Auge wenig Abwechslung.
Von Burgdorf aus geht es immer weiter direkt nach Süden bis nach Lehrte - damals wichtiger Eisenbahnknotenpunkt mit Verschiebebahnhof und ein großes Verkehrshindernis. Man musste bei jeder Ortsdurchfahrt wenigstens zwei Schranken hinter sich bringen. Das brachte lange Wartezeiten mit sich, da die Züge beim Rangieren immer wieder im Schrankenbereich hielten, vor- und zurückfuhren. Alle Häuser, an denen wir vorbeikommen, besitzen eine dunkle Patina, wohlwollend ausgedrückt. Sie sind geschwärzt vom Ruß der Dampflokomotiven.
Die Etappen der Tour:
Celle-Halle 100 km, Halle-Pyrmont 35 km (dargestellt auf der Shell-Karte von 1961)
Hinter Lehrte setzt sich die eintönige, ausschließlich landwirtschaftlich genutzte Landschaft fort bis Sehnde. Von dieser kleinen Stadt ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Danach aber kamen Orte, an deren Namen ich mich bis heute erinnere, weil sie für mich so lustig klangen: Ingeln oder Hotteln zum Beispiel. Hier wird auch die Landschaft allmählich hügelig, ein Vorgeschmack auf die Erhebungen des Weserberglandes. Inzwischen sind wir an Hannover vorbei, können uns also allmählich westwärts wenden. In Sarstedt queren wir die Leine, bewegen uns nun auf Nordstemmen und die B1 zu, der wir bis Salzhemmendorf folgen. Alle Alternativen zur Bundesstraße kamen wegen der längeren Strecke und wegen weiterer Berge nicht in Frage. Ich wundere mich manchmal heute noch, wie wir die 100 Kilometer so klaglos überstanden haben. Immerhin ist meine Mutter mit mir am nächsten Tag auch noch weiter nach Bad Pyrmont über die Ottensteiner Hochebene gefahren.
Hinter Salzhemmendorf kommt die Stunde der Wahrheit. Schaffen wir das oder nicht? Ab hier geht es satt bergauf. Wir müssen den Ith überwinden. Bis in den Ort Lauenstein hinein treten wir noch in die Pedale. Doch dann ist Schieben angesagt. Unsere Mutter fand das wohl nicht so toll. Für uns ist auch das interessant, sind wir doch gespannt auf die Abfahrt, die zwangsläufig folgen muss. Genauso kommt es. Mit geschätzten 60 Sachen schießen wir den Berg hinunter. Im Gegensatz zum Aufstieg verläuft die Abfahrtsstrecke nämlich weitgehend gerade. Doch was ist das? Ein 'Vorfahrt achten'-Schild bringt Weinmann-Bremsen und Rücktritt an ihre Grenzen.
Ausgerüstet waren wir mit einfachen Weinmann-Seitenzug-Bremsen vorn und Rücktritt-Bremsnabe hinten
Verflucht, verflucht, es ging doch gerade so schön bergab. Ab hier ist es nun aber nicht mehr weit. Wir folgen dem Tal mit einigen kleineren Anstiegen und Abfahrten, bis wir die 100-Kilometer-Marke knacken und unser Tagesziel erreichen: den Flecken Halle.
Hier betrieb unser Onkel Fritz die Apotheke des Ortes in einem für uns Kinder sehr romantischen, weil verwinkelten Fachwerkhaus, das dazu noch an einem Bächlein liegt. Viel Platz ist nicht um das Haus. Trotzdem gibt es einen großen Gemüsegarten. Der liegt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Man muss also die Straße überqueren und den steilen Hang über die dort angelegte Treppe erklimmen, um an die saftigen Erdbeeeren zu gelangen.
Wir sind dann wohl bald ins Bett und in einen tiefen Schlaf gefallen. Am nächsten Morgen fühle ich mich jedenfalls so fit, als ob nichts gewesen wäre. Nach einem ausgiebigen Frühstück heißt es für meine Mutter und mich also erst einmal Abschied nehmen, weil in Halle nicht genug Platz für alle ist.
Halle - Bad Pyrmont 35 km
Wir starten also zu unserer zweiten Etappe. Sie fällt jedoch wesentlich kürzer aus, weil wir nur noch bis nach Bad Pyrmont müssen. Dort können wir im Haus meiner Großmutter wohnen. Unser Weg führt uns zunächst flach in das nahe Bodenwerder. Hier befindet sich die einzige Weserbrücke auf weiter Strecke. Ein Stück bleibt es dann noch eben, bevor es hinter Hehlen auf die Ottensteiner Hochfläche hinaufgeht. Das ist so kräftezehrend, dass wir in Ottenstein nach einer Möglichkeit zum Einkehren Ausschau halten. Oh prima, da vorn ist ein Gasthaus. Die gab es damals noch in jedem Ort, und sie hatten doch tatsächlich auch tagsüber geöffnet! Also flugs die Räder abgestellt und hinein, die Speisekarte studieren. Es gibt zünftige Bockwurst mit Brot (Wurst gut, Brot mit Margarine, naja). Beim Blick nach draußen entdecke ich die Dorfjugend, wie sie sich um mein Rad versammelt hat und augenscheinlich über den Teddy witzelt.
Teddy muss mit - er sitzt während der Fahrt vorn auf dem Schutzblech
Das ist mir jetzt aber peinlich. Ich will doch auch schon groß sein, hänge aber noch an dem geliebten Kleinen. Trotzdem: Auf der Rückfahrt verschwindet er im Gepäck. Er ist übrigens heute noch bei mir, wie man auch an dem Foto sieht. Genau wie die Shell-Karten hat er merkwürdigerweise alle Umzüge überstanden. Jetzt freue ich mich darüber, weil diese Dinge meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Wir machen uns kurz darauf wieder auf den Weg, der uns nun über die leicht hügelige Hochebene nach Kleinenberg führt. Hier geht es in flotter Fahrt und in Serpentinen hinab in das Emmertal, in dem auch unser Ziel liegt. Die Bremsen müssen wieder einmal alles geben. In Bad Pyrmont verleben wir dann eine schöne Woche und erkunden alle Sehenswürdigkeiten der Gegend, die auch für einen Zwölfjährigen interessant sind. Das Fahrrad bleibt dabei meist im Stall, weil wir von Fahrten durch die Berge erst einmal genug haben.
Ich habe diese Fahrt als ein einziges großes Abenteuer erlebt. Leider gab es danach keine weiteren längeren Touren. Naja, allmählich begann ja auch das Alter, in dem man als Junge nicht mehr mit Mama los wollte. So mussten weitere zwei Jahre vergehen, bis ich meine erste eigene Tour starten konnte. 1963 war es dann soweit. Doch davon mehr in einem eigenen Beitrag.
Karten:
- Shell Autokarte : Blatt 1 - Nord-Deutschland (0,50 DM)*
- Shell Autokarte : Blatt 2 - West-Deutschland (0,50 DM)*
Der ganze Satz bestand aus 4 Karten = ganz Deutschland** für 2 DM.
* Diese Karten gibt es nicht mehr.
** Gemeint ist die Bundesrepublik. Es gab ja noch zwei deutsche Staaten.
Die beiden Shell-Karten kosteten damals 1,- DM. Shell bietet seit 2006 allerdings keine Karten mehr an.
Die vergleichbaren aktuellen ADAC-Länderkarten 1:500.000 kosten heute das 40-fache = 19,90 EUR !